Im Interview mit Claudia Kemfert
Die Expertin Prof. Claudia Kemfert leitet seit April 2004 die Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin. Sie kritisiert die Energiepolitik der Bundesregierung und fordert eine flexible Architektur des Stromsystems.
Käthe & Paul: Seit dem Amtsantritt der schwarz-roten Bundesregierung scheint die Unterstützung für die erneuerbaren Energien zu bröckeln. Wie bewerten Sie das?
Claudia Kemfert: Leider erleben wir derzeit tatsächlich eine energiepolitische Rolle rückwärts. Statt konsequent den Ausbau der Erneuerbaren voranzutreiben, werden alte fossile Strukturen stabilisiert. Das ist ökonomisch wie ökologisch kurzsichtig. Investitionssicherheit entsteht nur, wenn die Politik klare, langfristige Signale sendet. Wer jetzt wieder auf fossile Brückentechnologien setzt, verspielt das Vertrauen der Industrie, der Kommunen und der Bürgerenergieprojekte, die längst in die Energiewende investiert haben.
K & P: Bau von mehr Gaskraftwerken, Förderung von CO₂-Speicherung (CCS), 2,5 Milliarden € für Kernfusion – geht das aus Ihrer Sicht in die richtige Richtung?
Kemfert: Nein. Das ist ein energiepolitischer Irrweg. Neue Gaskraftwerke oder CCS-Projekte sind teuer, ineffizient und lenken von den echten Lösungen ab. Wir brauchen flexible Speicher, intelligente Steuerungssysteme und Sektorkopplung – keine neuen fossilen Abhängigkeiten. Und bei der Kernfusion reden wir über eine Technologie, die frühestens in Jahrzehnten eine Rolle spielen könnte. Für das Klima zählt aber das nächste Jahrzehnt. Jeder Euro, der heute in Erneuerbare, Effizienz und Speicher fließt, wirkt sofort und schafft Wertschöpfung vor Ort.
K & P: Der aktuelle Monitoring-Bericht geht für 2030 von einem deutlich geringeren Strombedarf in Deutschland aus. Ist das trotz Industrieumbau, Elektromobilität, Wärmepumpen und grünem Wasserstoff
realistisch?
Kemfert: Das ist völlig unrealistisch. Wenn wir ernsthaft dekarbonisieren wollen, steigt der Strombedarf deutlich – um 30 bis 50 Prozent. Dieser Strom muss aus Erneuerbaren kommen. Niedrigere Prognosen führen zu Fehlsteuerungen: zu wenigen Windrädern, zu wenig Solarenergie, zu geringer Investitionsbereitschaft. Die Politik sollte lieber auf Szenarien setzen, die Industrie- und Haushaltsumstieg realistisch abbilden.
K & P: Ministerin Reiche sieht bei den Erneuerbaren Nachholbedarf vor allem in puncto Effizienz. Hat sie da einen Punkt?
Kemfert: Natürlich ist Effizienz wichtig, aber der Hauptengpass liegt nicht dort, sondern bei Bürokratie, fehlender Flächenbereitstellung und unklaren Rahmenbedingungen. Viele Projekte scheitern nicht an mangelnder Effizienz, sondern an Genehmigungen, Netzanschlüssen und politischer Unsicherheit. Effizienz ist kein Ersatz für Tempo beim Ausbau.

Sebastian Wiegand
K & P: Stichwort Dunkelflaute: Die Windenergie hat tatsächlich ein recht schwaches Halbjahr hinter sich. Wie groß ist das Problem für die Energieversorgung?
Kemfert: Dunkelflauten sind ein bekanntes Phänomen – aber kein unlösbares Problem. Entscheidend ist, dass wir ein System der Vielfalt aufbauen: Wind + Solar + Speicher + Lastmanagement + europäische Vernetzung. Wenn Sonne und Wind schwächeln, springen Speicher, Wasserkraft oder flexible Verbraucher ein. Einzelne Halbjahre sagen wenig über die Stabilität des Gesamtsystems. Wichtig ist die Gesamtarchitektur – und die funktioniert nur mit Erneuerbaren, Speicher, digitaler Steuerung und intelligenter Netzführung.
K & P: Brauchen wir als Puffer viele neue Gaskraftwerke oder gibt es Alternativen?
Kemfert: Wir brauchen flexible Kapazitäten, ja – aber die müssen klimaneutral sein. Batterien, Wärmespeicher, Pumpspeicher, Biogas und perspektivisch grüner Wasserstoff können diese Rolle übernehmen. Neue fossile Kraftwerke wären teure Fehlinvestitionen, die bald wieder stillgelegt werden müssten. Sinnvoller ist es, bestehende Anlagen schrittweise umzurüsten und gleichzeitig dezentrale Speicher, Smart Grids und virtuelle Kraftwerke zu fördern, die Angebot und Nachfrage intelligent ausgleichen.

„Viele Projekte scheitern nicht an mangelnder Effizienz, sondern an langwierigen Genehmigungen, fehlenden Netzanschlüssen und politischer Unsicherheit.“
Claudia Kemfert, Abteilungsleiterin Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung
K & P: Steigende Kosten, schlechtere Ausschreibungskonditionen – und immer häufiger müssen Windparkbetreiber eigene Umspannwerke bauen. Nun sollen sie laut Ministerin Reiche „mehr Systemverantwortung“ übernehmen, also z. B. auch noch für die Netzanbindung zahlen. Wie soll das funktionieren?
Kemfert: Das ist der falsche Ansatz. Die Betreiber leisten schon jetzt einen enormen Beitrag – finanziell, organisatorisch und gesellschaftlich. Werden sie zusätzlich belastet, gefährdet man Investitionen. Systemverantwortung muss fair verteilt werden: Netzbetreiber, Politik und Energieunternehmen müssen gemeinsam Lösungen finden. Es braucht eine solidarische Infrastrukturfinanzierung und den gezielten Einsatz digitaler Steuerungstechnologien, nicht eine weitere Privatisierung der Risiken.

K & P: Die Ministerin fordert, den Erneuerbaren-Ausbau besser mit dem Netzausbau zu synchronisieren. Das könnte aber statt schnellerem Netzausbau auch heißen, die Erneuerbaren zu bremsen. Ist das 80-Prozent-Ziel noch zu erreichen?
Kemfert: Nur, wenn wir beschleunigen, nicht bremsen. Wer Synchronisierung als Vorwand nutzt, um Projekte zu verzögern, riskiert das 80-Prozent-Ziel. Wir müssen beides parallel vorantreiben: moderne Netze, Digitalisierung und regionale Flexibilitäten. Smart Grids, Smart Meter und virtuelle Kraftwerke können helfen, Stromflüsse besser zu steuern und Engpässe zu vermeiden – ohne den Ausbau zu verlangsamen. Digitalisierung ergänzt den Netzausbau, sie ersetzt ihn nicht, aber sie macht ihn effizienter und schneller.
K & P: Der Klimawandel ist in der Öffentlichkeit etwas in den Hintergrund getreten. Das hat Folgen für die Akzeptanz von Erneuerbaren. Welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht Bürgerenergie, also die Beteiligung etwa in Form von Genossenschaften?
Kemfert: Eine entscheidende. Bürgerenergie schafft Akzeptanz, Teilhabe und lokale Wertschöpfung. Wenn Menschen sehen, dass Windräder oder Solaranlagen in ihrer Region Arbeitsplätze schaffen, die Gemeinde stärken und Stromkosten senken, wächst die Unterstützung. Bürgerenergie ist das Rückgrat der Energiewende. Sie macht aus anonymen Projekten ein Gemeinschaftsprojekt – und damit aus Widerstand neue Energie.
K & P: Welche politischen Maßnahmen würden kurzfristig helfen, um Planungssicherheit für Betreiber zu schaffen?
Kemfert: Zunächst: verlässliche und langfristige Ausschreibungsbedingungen, weniger Bürokratie und klare Netzzusagen. Dann: eine Reform der Abgaben- und Umlagensystematik, damit Speicher und Flexibilitätslösungen wirtschaftlich werden. Außerdem müssen die Kommunen stärker beteiligt werden, finanziell wie planerisch. Und schließlich braucht es einen konsequenten Vorrang für Erneuerbare – im Planungsrecht, bei der Flächenvergabe, bei Investitionsentscheidungen. Digitalisierung, Transparenz und intelligente Steuerungssysteme können diese Prozesse zusätzlich beschleunigen.
K & P: Was antworten Sie Leuten, die sagen, beim Klimawandel sei der Zug eh schon abgefahren und Deutschland zu klein, um etwas auszurichten?
Kemfert: Das Gegenteil ist der Fall. Jedes Zehntelgrad zählt – und jedes Land, das vorangeht, beweist, dass Klimaschutz funktioniert. Deutschland hat in der Vergangenheit gezeigt, dass eine Industriemacht mit Erneuerbaren erfolgreich sein kann. Wenn wir jetzt wieder mutig sind, liefern wir ein Vorbild für viele andere Länder. Und: Handeln ist immer günstiger als Nicht-Handeln. Wer heute investiert, schützt Klima, Wirtschaft und Freiheit zugleich.
ist Professorin für Energiewirtschaft und Energiepolitik am DIW Berlin und der Leuphana Universität. Sie forscht seit über 25 Jahren zu Energiewende, Klima- und Wirtschaftspolitik. Sie ist eine mehrfach ausgezeichnete Wissenschaftlerin, Ko-Vorsitzende im Sachverständigenrat für Umweltfragen sowie im Präsidium der deutschen Gesellschaft des Club of Rome. Sie ist Autorin von zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen, darunter mehrere Bücher. Zuletzt erschienen ihre Bücher „Schockwellen“ und „Unlearn CO2“.
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